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Perspektivenwechsel

Autoren: Paul M. Zulehner/Petra Steinmair-Pösel

Aus: Martin Kolozs (Hrsg.): Eine Antwort des Glaubens, Im Gespräch mit Paul M. Zulehner und Petra Steinmair-Pösel, Innsbruck 2012.

 

Petra Steinmair-Pösel / Paul M. Zulehner: Fast alle reden von einer Krise der Kirche – vor allem in den modernen Kulturen Westeuropas und Nordamerikas. Sinkende Zahlen werden beschworen: die Zahl der Mitglieder schrumpft durch Austritte; es gibt zu wenige Priester für die historisch gewachsenen gläubigen Gemeinden; Orden, vor allem apostolische, sterben oder retten sich durch Verlagerung in andere Kontinente. Die säkulare Welt habe eine tiefe Gotteskrise erfasst. Das Christentum sei in Europa am Sterben.

Die Beschwörung der Krise kommt manchen auch gelegen. Jene, welche das Konzil nie so richtig angenommen haben, orten als eigentliche Ursache der Krise das Konzil. Vorher, so sagen sie, sei die Kirche in einem guten Zustand gewesen. Ihre Mauern gegenüber der Welt (Neh 2,17) hätten sie vor Verweltlichung geschützt. Das Jahrtausende alte Programm konnte unbehindert ausgeführt werden: Aus der „massa damnata“ (wörtlich so Augustinus: die große Zahl der Verdammten) der gottlos-verkommenen, säkularisiert-relativistischen Welt werden die Auserwählten gerettet. Die Kirche war so weit weg von der zeitgenössischen Welt, dass ihr keine „Entweltlichung“ (Benedikt XVI.) verordnet werden musste. Es liegt nahe, dass vor das Konzil zurückreformieren will, wer die Ursache der Krise in diesem erblickt.

Was aber, wenn die Kirche gar nicht in einer Krise steckt: sondern – was viel dramatischer wäre, ja ist – in einer epochalen Umbauzeit? Krise ist wie eine Krankheit, die es zu überstehen gilt, Umbau heißt Wachsen und Reifen mit dem Wissen, dass es nie wieder so sein wird wie zuvor. Dann braucht es keine „Retro-Reform“, sondern einen mutigen Kirchenumbau mit dem Blick nach vorn. Der Prophet Jeremia kann dabei als Wegweiser dienen. Das Volk war von Gott selbst durch Deportation in eine neue fremde, und im Vergleich zu Israel moderne Kultur hineingestellt worden. Selbsternannte Nostalgiepropheten weckten die Sehnsucht zurück. Sie können als klassische „Retro-Propheten“ gelten. Gott aber ließ durch seinen wahren Propheten sagen: Dableiben! Nicht davonträumen! Sich um das Wohl der Stadt sorgen! Heiraten, Kinder bekommen – und das in fremden und scheinbar gottlosen Babylon und nicht in nostalgisch vermissten Jerusalem (Jer 29,1-7).

Wir gehen beide davon aus: Die Kirche ist nicht in Krise, sondern im Umbau. Im Folgenden werden zwölf „Perspektivenwechsel“ angedeutet, die den Weg der Kirche bei ihrem Umbau vor allem bei uns in Westeuropa erleichtern werden. Sie fassen auch die wichtigsten Gedanken des Gesprächs zusammen, so dass es auch zu erinnernden Wiederholungen kommt.

 

Perspektivenwechsel 1: vom Schicksal zur Wahl

Die Konstantinische Ära in ihrer nachreformatorischen Gestalt ist endgültig vorbei. Christentum ist nicht mehr unentrinnbares Schicksal, sondern muss gewählt werden (Peter L. Berger). Dann ist es unangemessen, die derzeitige Entwicklung an Hand der veralteten „benchmark“ (Messlatte) von 100% zu deuten. Denn dann bedeutet eine Veränderung in den Zahlen immer Rückgang. Diese Sichtweise macht depressiv und verhindert einen mutigen Aufbruch. Wir verwalten den Untergang eines sterbenden Kirchenbetriebs. Wir sagen dann etwa in Österreich: „nur noch“ 12% gehen am Sonntag in die Kirche. Wir könnten aber auch sagen: 750000 Menschen finden es wichtig,  sonntags in die Kirche zu kommen. Sie lassen sich aus unsolidarischen „Angsthasen“ zu angstfreien solidarisch liebenden Menschen wandeln. Das Land wäre am Montag anders. Oder: Ein Drittel der Mitglieder überlegt einen Kirchenaustritt. Auch das versetzt uns mit den alten Kriterien in Panik. „So viele!“ sagen wir besorgt und sind wie gelähmt, klagen über fehlende Reformen. Warum sagen wir nicht: „Nicht schlecht! Die Leute denken nach, sie entscheiden sich. Das könnte mehr Qualität bringen. Derzeit sind unter den vielen Katholiken und Protestanten relativ wenige Christen, die daran glauben, dass Gott Mensch wurde und Gott ihn von den Toten auferweckt hat.“ Das wird sich ändern. Wer morgen mitmacht, wird entschlossener, konsequenter sein. Christlicher. Es gilt also: Nicht den Untergang verwalten, sondern den Übergang gestalten.

Perspektivenwechsel 2: Von den Irritation zu den Gratifikationen

Vor allem die Reformkreise in der Kirche meinen, die Kirche stünde besser da, würde sie die Menschen nicht so sehr irritieren. Die Störungen sind an den fünf Fingern einer Hand aufzuzählen: frauenfeindlich, sexualneurotisch, undemokratisch, vormodern, also out. Neueste Studien über die religiöse Mobilität zeigen jedoch, dass Irritationen zwar eine Rolle spielen. Sie beschleunigen die religiöse Mobilität aus der Kirche hinaus. Aber sie sind nicht die Ursache des Austritts. Es geht, wen nichts mehr hält, also bindet. Bei vielen Austretenden (nicht bei den vereinzelten Protestaustritten) fehlen schlicht die Bindungskräfte. Die Kirche bedeutet in ihrem Leben nichts (mehr). Sie haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben.

Wie begründet dieser Perspektivenwechsel ist, erlebe wir selbst: Wir sind wohl über vieles in unserer Kirche mehr irritiert als die meisten die gegangen sind. Und doch bleiben wir. Es geht uns wie Petrus, der angesichts der ersten Austrittsbewegung aus der Jesusbewegung (Joh 6,64-67) auf die Urgratifikation pocht: „Du hast Worte des ewigen Lebens!“ Und auf diese verzichten wir nicht, auch wenn die Kirche noch eine Weile brauchen wird, bis ein Teil der Irritationen von der Sexualmoral über die Partizipation und einen jesuanischen Umgang mit Frauen behoben sein werden.

Perspektivenwechsel 3: von der Struktur zur Vision

Fast alle Ortskirchen reagieren auf die Signale des Umbaus mit Strukturreformen. Sie vergrößern die pastoralen Räume, sobald die Zahl der verfügbaren Priester sinkt. Der sterbende veraltete Kirchenbetrieb wird „heruntergefahren“. Organisationsfachleute reden vom „Downsizing“. Das macht die Kirche nicht zukunftsfit, sondern beschleunigt lediglich den Verfall. Denn in den großen Räumen, die das Ehrenwort „pastoral“ gar nicht mehr verdienen, entfernt sich die Kirche immer mehr von den Menschen. Sie dünnt das aus, woraus nach den wunderbaren Eucharistiereden des Konzils und der beiden letzten Päpste die Kirche lebt und ständig erneuert wird.

Im Gegensatz dazu braucht es Visionen. Unter Beteiligung möglichst vieler in der Kirche und darüber hinaus (!) gilt es auszuloten, welche Visionen das kirchliche Handeln orientieren und motivieren können. „In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten. Visionen war nicht häufig. Eines Tages geschah es: Eli schlief auf seinem Platz. Seine Augen waren blind geworden und er konnte nicht mehr sehen“ (1 Sam 3,1). Ein höchst aktueller Text, der noch vermerkt, dass auch der junge Samuel im Tempel des Herrn schlief. Aber vielleicht ist das eine gute Zeit, wenn alle schlafen. Hat nicht Gott immer wieder in Träumen die Wege der Menschen ausgerichtet?

Perspektivenwechsel 4: vom Priestermangel zur Qualitätsmehrung pastoraler Vorgänge

Visionen ersetzen nicht Strukturen, sondern verlangen nach deren visionsförmiger Gestaltung. Auch diesbezüglich ist ein Perspektivenwechsel erforderlich. Die derzeitige Frage lautet: Wie viele Priester haben wir und darauf gestützt formen wir die pastoralen Räume? Stattdessen gilt es zu fragen: Welcher pastorale Vorgang kann optimal in welchem pastoralen Raum geschehen? Das führt zu einem differenzierten Raumkonzept. Manches wird besser in größeren Räumen geschehen (wie Bildungsarbeit, Jugendarbeit…), anderes hingegen in lokaler „Ruf- und Reichweite“ (wie Dienst an den Familien mit kleinen Kindern, Alte, Menschen mit Behinderung): Die Eucharistie sollte – so wünschen es sich die meisten Kirchenmitglieder – lokal gefeiert werden. Das Argument eines deutschen Bischofs, dass die Menschen ja auch zum Baumarkt weite Strecken in Kauf nehmen, greift nicht. Messe und Einkauf von Baumaterial unterscheiden sich eben tiefgreifend. Der Kirche tut es nicht gut, sich auf eine Ebene mit den modernen Konsumtempeln zu stellen.

Perspektivenwechsel 5: vom Heilspessimismus zum Heilsoptimismus

Es gehöre zur bleibenden Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils, so Karl Rahner, dass wir fragen dürfen, ob wir hoffen dürfen, dass Gott am Ende alle rettet. Das ist die Antwort konziliarer Hoffnungstheologie auf das Einswerden der Menschheit. Dieses Wissen ist zwar biblisch tief verwurzelt. Stark präsent ist es in der Rede von der „Erbschuld“, dass also– modern mit René Girard ausgedrückt – auf Grund von dunklem Begehren alle in einer destruktiven Geschichte von Gewalt, Gier und Lüge verfangen sind – in einer „sinnlosen, von den Vätern (und ebenso von den Müttern) ererbten Lebensweise“ (1 Petr 1,18). Aber wenn es um das Heil der vielen geht, individualisieren wir. Wir streiten neuerdings, ob es richtig ist, das „pro multis“ aus dem nacherzählten Einsetzungsbericht der Messe mit „für alle“ zu übersetzen. Man wolle doch das Heil den Menschen nicht nachwerfen. Also verraten wir den gewonnenen Heilsoptimismus des Konzils wieder. Aber geht das wirklich? Ist nicht der Gott der Christen auch ein Gott der Atheisten, der Buddhisten, der Hindus, der Muslime, der Skeptiker und Agnostiker, der spirituellen Pilger und der Fundamentalisten? Das Heil aller steht auf Gottes Programm (1 Tim 2,4). „Auf ihn hin ist alles geschaffen“; er ist „der Erstgeborene der ganzen Schöpfung“ (Kol 1,15-20). Gewiss, wenn ausreift, was im Menschen ist, landen wir alle in der Hölle: Stalin, Hitler und ich – also jede und jeder von uns. Aber was ist Gott zuzutrauen? „Was dürfen wir hoffen?“ so Hans Urs von Balthasar, der nicht im Ruf stand liberal-progressiv zu sein? Alle Theologen, die zur Erneuerung der Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil beigetragen haben, sind in die Schule der griechischen Kirchenväter gegangen. Wie könne der Sieg Gottes über das Gegengöttliche vollendet sein, wie könne also „Gott alles in allem“ sein (1 Kor 15,28), solange es noch Sünde, Tod und Teufel gebe, so fragt der große östliche Kirchenlehrer Gregor von Nyssa. Er unterscheidet sich dabei sehr wohl von Origenes und seiner Allversöhnungsdoktrin: Origines wusste zu viel und hoffte zu wenig.

Perspektivenwechsel 6: von einer exklusiven zu einer inklusiven Kirche

Wer den Weg zum Heilsoptimismus geht, verändert dabei auch sein Kirchenbild. Für Heilspessimisten galt: „Extra ecclesiam nulla salus“. Ohne Taufe und Glaube kein Heil: Nur wer mit seinem Munde bekennt „Jesus ist der Herr“ und im Herzen glaubt: „Gott hat ihn von den Toten auferweckt“ (Röm 10), kann gerettet werden. So haben die christlichen Kirchen heilspanisch versucht, möglichst vielen das Evangelium zu predigen und sie zu taufen: notfalls, falls die Geburt nicht glatt von stattenging, mit einer Taufspritze im Mutterschoß – 1903 verordnete der protestantische preußische Gesundheitsminister, dass dies nur noch Ärzte machen dürfen. Heilsoptimisten haben ein „inklusives Kirchenbild“. Wo das Heil ist, ist etwas von Kirche. Und dieses „Etwas“ ist wahrhafte Liebe (Mt 25). Nur diese vollendet und macht, so wird sich am Ende aller Tage zeigen, „christusförmig“. Das ist keine Vereinnahmung aller durch die Kirche, sondern eine Verausgabung Gottes an alle. Aus unserer christlichen Perspektive sagen wir: Solche wahrhafte rettende Liebe schenkt immer Gottes Geist – auch dem Atheisten, der wenn und weil er liebt in „verhüllter Weise“ auf dem Weg des Heils ist (Hans Urs von Balthasar).

Perspektivenwechsel 7: vom heilspanischen Erfassen zum empathischen Enthüllen und Heilen aus compassion

Im Rahmen des Heilsoptimismus und des inklusiven Kirchenbildes ändert sich die Mission der Kirche. Ihre Aufgabe ist es nunmehr, Licht und Salz zu sein (Mt 5,13f.) Sie ist Licht, indem sie „enthüllt“, was uns von Gott selbst in Jesus von Nazareth und seiner Lehre, seinem Leben von der Menschwerdung bis zur Auferstehung geoffenbart worden ist. Wir tun dies, indem wir aus der Kraft der Auferstehung leben und Jesu Weg mutig nachgehen. Wenn man uns nach unserer tapferen Hoffnung fragt, erzählen wir davon und absichtslos feiern wir, was Gott Großes an der Menschheit und damit an uns allen getan hat und tut. Die Kirche ist dann aber auch Salz – Heilsalz. Denn es gibt gegen das letztlich unaufhaltsame Heilswirken Gottes in der Geschichte dämonische Gegenmächte. Sie wurzeln (so Soeren Kierkegaard, Eugen Drewermann, Eugen Biser, Benedikt XVI.) letztlich in der Angst, die uns daran hindert, Liebende zu werden. Statt auf Gott zu vertrauen setzen wir in unseren angstgetriebenen Überlebensstrategien eben auf Gewalt, Gier und Lüge (Monika Renz). Die Kirche, so Benedikt XVI. in Deus caritas est, ist kein dunkles Moralsystem. In seinem Buch „Licht der Welt“ zitiert er als einzigen Theologen Eugen Biser und dessen Ringen um einen Abschied vom Moralisieren hin zum Heilen. Die Kirche müsse in der Nachfolge des Heilands Heil-Land sein (Markus Beranek).

Perspektivenwechsel 8: vom Brauchen zum Sich-brauchen-lassen

Viele Menschen sagen: Ich brauche die Kirche nicht. Und auch Gott ist in einem strengen Sinn dieses Wortes „zu nichts zu gebrauchen“. Die aufklärerische Vernützlichung Gottes war der Anfang seiner Abschaffung. Gott sorgt sich um das Heil aller Menschen. Die Heilsberufung ist universell und auch die Hoffnung, dass Gott letztlich mit allen zu einem guten Ende kommt – ohne dass wir das mit Sicherheit sagen können – ist universell. Die Kirchenberufung dagegen ist – wie jene zum Volk Israel – nicht universell. Einige stehen im Dienst der vielen. Kirche ist immer Stellvertretung. Im Musical Anatevka sagt der Milchmann Tewje am Ende, als er mit seiner Familie wieder einmal vertrieben wurde: „Gott, könntest Du nicht einmal ein anderes Volk berufen?“ Auch Jona war es spirituell nicht sehr behaglich, nach Ninive gesandt zu werden –weil er die Drohpredigt scheute undweil er nicht das Heil der Stadt wollte, der 120000 Verkommenen und dazu noch so viel Vieh! (Jona 4,11) Gott selbst ist es, der einige aus der einen Welt seinem Volk „hinzufügt“ (Apg 2,47). Und das nicht, damit diese Kirchenberufenen gerettet werden und die anderen nicht, sondern dass wir  durch unser glaubhaftes Leben sowiemit unseren Charismen dazu beitragen, dass Gott am Ende alle retten kann.

Perspektivenwechsel 9: Vom Besucher zum engagierten Zeugen

Selbst in bischöflichen Hirtenworten kann man das theologisch absurde Wort „Kirchenbesucher“ lesen. Nun gab es solche in der Vergangenheit und wird es diesen Modus der Kirchlichkeit auch in Zukunft gehen: Man kann hoffentlich auch künftig „hinter der Säule gerettet werden“. Und doch geht der Perspektivenwechsel vom Besucher zum missionarischen Zeugen. Die Kirche wird künftig weniger einen gesellschaftlichen Dienstleistungsbetrieb mit hauptamtlichem Fachpersonal darstellen, sondern eine Gemeinschaft, die nach Maßgabe von Talenten und Mitteln Dienste aneinander und in der Gesellschaft leistet. In der französischen Zukunftsdiözese Poitiers können jene Christinnen und Christen vom Bischof als kirchliche Gemeinschaft (angesiedelt in einem größeren Raum) anerkannt werden, die selbst eine Gemeinde aufbauen, mit den erforderlichen Diensten versehen, sich um das Geld kümmern – und die einer von ihnen leitet. Es ist nicht einzusehen, warum aus den vielen gemeindeerfahrenen Personen nicht drei gewählt, ausgebildet und in ein lokales „Team of Elders“ (Fritz Lobinger) geweiht werden.

Perspektivenwechsel 10: Von vorrangig territorialen Strukturen zu vielfältigen personalen Gemeinschaften mit Strukturen

Der traditionellen Kirche und ihrer Pastoral des“ Erfassens“ von Menschen für das Heil durch die Kirche angemessen war das Territorialprinzip, die Pfarrei.  Das Pfarrprinzip war die dominante Seelsorgsstruktur, auch wenn es überlagern Orden und später „kategoriale“ Strukturen gab.

Das Pfarrprinzip behält zwar künftig seine Wichtigkeit – auch deshalb, weil es eine lückenlose Struktur“ diakonaler Aufmerksamkeit“ darstellt: Selbst verschämte Arme haben die begründete Hoffnung, dass sie nicht übersehen werden, wenn es eine lebendige und diakonal aufmerksame Pfarrgemeinde gibt. Aber immer mehr Gewicht erhalten künftig personale Gemeinschafts-Strukturen, wie geistliche Bewegungen, Basisgemeinden, Gemeinschaften innerhalb der Pfarrgemeinden. Die Orden sind dabei, in dem neuen Gefüge der künftigen Kirchengestalt einen angemessen Ort zu finden.

Der Vielfalt von modernen Glaubensgestalten wird künftig eine bunte  Vielfalt gläubiger Gemeinschaften entsprechen, und dies mit unterschiedlichen Raumbezügen.

Perspektivenwechsel 11: Von der Betreuung zur Leitung

Damit verschieben sich die Akzente von den versorgenden und betreuenden Priestern hin zu den vielen ehren- wie hauptamtlichen SeelsorgerInnen, darunter die Priester. Die Aufgabe der Priester wird sich dabei mitwandeln. Sie werden nicht alles selbst machen, sondern die der Kirche geschenkten Charismen fördern. Das geistliche Amt des Führens und Leitens ist ihnen nicht dazu gegeben, alles selbst zu (besser) wissen und zu machen. Ist doch „allen die Offenbarung des Geistes gegeben, damit sie allen nützt“ (1 Kor 12,7). Vielmehr werden sie die charismatisch begabten Gemeinschaften und Gemeinden in der Spur des Evangeliums halten und um den Zusammenhalt der Evangeliumsgemeinden besorgt sein. Die Formel stimmt also nicht, dass das Engagement des Volkes /der Laien das Amt überflüssig machen wird. Das Amt braucht es zudem, um in Erinnerung zu halten, dass sich die Kirche nicht selbst erfindet, sondern sich Gott selbst verdankt, was allein sie zum Volk Gottes macht. So bleibend aber das Amt ist: tiefgreifend ändern wird sich der Amtsstil. Er wird immer weniger autoritär-klerikal und immer mehr synodal-partizipativ sein. Dabei gilt die Regel: Je mehr Partizipation, desto notweniger ist ein leitungsfähiges kirchliches Amt.

Perspektivenwechsel 12: Von einer von Männern geleiteten Frauenkirche zu einer Kirche von Frauen und Männern

Die Kirche, zumal die katholische, aber auch die orthodoxe, ist von Männern geleitet. Dies stammt aus einer Kultur, in der nur Männer etwas öffentlich bezeugen konnten. Und dies, obgleich Jesus eine Frau zur ersten Zeugin der Urbotschaft ausgewählt hatte: Maria von Magdala, und von den Männerzeugen, den Aposteln, zunächst gesagt wird: Sie hielten es für ein Geschwätz (Lk 24,11). Das neue Selbstbewusstsein der Frauen gehört zu den Zeichen der Zeit, so Johannes XXIII. So soll es auch in der Kirche keine Spaltung und Diskriminierung zwischen Männern und Frauen geben. Auf gleicher Augenhöhe, wenngleich mit unterschiedlichen Begabungen bereichern Frauen und Männer das Leben der Kirche von heute. Auch auf amtlicher Ebene? Das Drängen vieler Frauen, unterstützt von vielen Männern, Frauen in der Kirche für Leitungspositionen zu gewinnen ist groß: in Akademien, diözesanen Ämtern, pastoralen Berufen, ehrenamtlichen Diensten. Auch in Weiheämtern? Die Weltkirchenleitung sagt, das ginge nicht. Damit hat das Fragen und Suchen jedoch nicht aufgehört.

Perspektivenwechsel 13: Vom Vorrang der Ehelosigkeit zum Vorrang der Eucharistiefeier.

Die Tiefeneinheit in und zwischen den kirchlichen Gemeinden und Gemeinschaften sowie zwischen den Ortskirchen (und wohl auch zwischen den verschiedenen christlichen Kirchen) kommt in der Feier der Eucharistie zum Ausdruck und wird durch diese begründet und gefestigt. Dabei hat jede gläubige Gemeinde und Gemeinschaft ein Recht darauf, Eucharistie zu feiern (Johannes Paul II: Ecclesia de eucharistia, Rom 2003). Die Kirche sorgt dafür vor, dass für diese gläubigen Gemeinden ausreichend Priester „in Ruf- und Reichweite“ sind, noch mehr, dass die Priester nach Möglichkeit auch in der Gemeinschaft mitleben. Um dies zu erreichen, wird die Kirche notfalls jene Kriterien öffnen, nach denen jemand zum Ordo zugelassen wird. Das Gut der Feier der Eucharistie in gläubigen Gemeinschaften und Gemeinden wird in der Wertehierarchie der Kirche höher angesiedelt sein als die „Rettung“ des Gutes der ehelosen Lebensform der Priester.

Perspektivenwechsel 14: Von der Eucharistie als Belohnung zum unverdient-unverdienbaren Geschenk

In seinen gnadentheologisch fundierten Mediationen weist der amerikanische Franziskanerpater Richard Rohr immer wieder darauf hin, dass wir die Eucharistie zu einem „Würdigkeitswettbewerb“ gemacht haben. Wenn wir die Eucharistie zu etwas machen, das Mitgliedschaft definiert, anstatt Gnade und Geschenkhaftigkeit zu verkünden, geraten wir aber immer in Schwierigkeiten – eine Versuchung, mit der jede Konfession, welche die Eucharistie kennt, sich auseinandersetzen muss. Denn zu oft wird die Eucharistie verwendet, um zu unterscheiden zwischen denen, die drinnen, und denen, die draußen sind, zwischen den Würdigen und den Unwürdigen – anstatt zu sagen, dass alle radikal unwürdig (oder durch Gottes Menschwerdung würdig gemacht) sind, während es bei der Frage der Eucharistie gar nicht darum geht, ob jemand „würdig“ ist – sondern vielmehr um eine Frage des Vertrauens und der Hingabe und der damit verbundenen Dankbarkeit (was ja die eigentliche Bedeutung von Eucharistie ist: Danksagung). Vor dem Hintergrund eines solchen Perspektivenwechsels lassen sich auch Fragen nach der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener, anderer „Sünder“, aber auch Angehöriger anderer Konfessionen ganz neu und anders stellen und dann auch beantworten. 

 

Solche Perspektivenwechsel können der Kirche jenen Experimentierraum schaffen, in dem sie – versorgt mit orientierenden und motivierenden Visionen – eine neue Praxis und Gestalt entwickeln kann. Dabei vertraut sie auf den Geist, was sie ermutigt, auch zu riskieren und Fehler zu machen. Aber ohne Risikofreudigkeit kann die Zukunft nicht gewonnen werden.